Vision or Waking Dreams
Melike Kara, Larissa Sansour & Søren Lind,
Julia Steingeweg, Emma Talbot
2.4. – 29.5.2022
© die Künstlerinnen und Künstler / the artists & Kunstverein Friedrichshafen, Fotos / Photos: Kilian Blees
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„Die Welt romantisieren heißt, sie als Kontinuum wahrzunehmen, in dem alles mit allem zusammenhängt. Erst durch diesen poetischen Akt der Romantisierung wird die ursprüngliche Totalität der Welt als ihr eigentlicher Sinn im Kunstwerk ahnbar und mitteilbar.“ (Novalis)
Das Wissen der Menschheit um die Natur der Dinge und deren Zusammenhänge war noch nie so umfangreich und differenziert, wie wir es im 21. Jahrhundert erleben. Dennoch – oder gerade deswegen – erscheint unsere Welt in einem Maße komplex, wie nie zuvor. Wissenschaft, Faktizität und Empirie sind die Grundlagen jeder aufgeklärten, modernen Gesellschaft. Doch was passiert, wenn sich trotz aller Rationalität keine allgemeingültigen Aussagen über die Totalität der Welt mehr treffen lassen?
Visions or Waking Dreamsbringt mit Melike Kara, Larissa Sansour & Søren Lind, Julia Steinigeweg und Emma Talbot Künstlerinnen und Künstler zusammen, die Vergangenheit und Gegenwart reflektieren, um ihre Möglichkeiten und nicht realisierten Potentiale zu imaginieren. Ihre Entwürfe erfassen die sinnlich erfahrbare Welt und bündeln ihr Wesen sowie die Dinge, Ereignisse und Handlungen, die sie ausmachen. Somit vermitteln sie eine Art Weltempfindung, welche eine poetische und vielleicht sogar eine ganzheitliche Erfassung der Welt erst ermöglicht.
Wiederkehrende Themen von Melike Karas Malerei und Installationen sind die zwischenmenschliche Kommunikation und die Frage, wie individuelle und kollektive Geschichten erzählt, und Identitäten konstruiert werden. Während ihre früheren Bilder eine figürliche Formensprache nutzten, verwischt sie in neueren Malereien die Grenze zur Abstraktion zusehends, sodass nur noch vereinzelt Silhouetten zu erahnen sind. Solche formalen Eigenschaften sind Ausdruck einer andauernden Beschäftigung mit dem Bewusstsein, mit Identität und den eigenen kurdisch-alevitischen Wurzeln. Kara schöpft aus ihrem persönlichen Archiv, das sie über die Jahre aus verschiedenen Quellen zusammengetragen hat und das den Versuch unternimmt durch Fotografien, Erinnerungen und Erzählungen von Ereignissen, Mythen und Ritualen die Geschichte und Traditionen des staatenlosen kurdischen Volkes zu dokumentieren und zu bewahren. Melike Kara stemmt sich vehement gegen das Vergessen und schafft eine poetische Geschichtsschreibung, die den Blick auf das Persönliche und Individuelle anstatt auf das Kollektive richtet.
Larissa Sansour ist eine palästinensische Künstlerin, die in ihrer Praxis immer wieder Elemente der Popkultur und Science-Fiktion nutzt, um politische und gesellschaftliche Themen zu behandeln und die komplexe Lebensrealität in Palästina und dem Nahen Osten zu beleuchten. Ihr multimediales Werk umfasst Skulpturen, Fotografien und Installationen. Darüber hinaus schafft sie bildgewaltige Filme, für die sie mit dem Drehbuchautor, Regisseur und Schriftsteller Søren Lind (*1970) zusammenarbeitet. Auch ihr gemeinsamer FilmIn the Future They Ate From the Finest Porcelain(2015) bewegt sich im Spannungsfeld von Science-Fiction, Archäologie und Politik und erforscht die Rolle von Mythen für die Geschichte, für Fakten und für die Entstehung nationaler Identität. Er erzählt von einer Widerstandsgruppe, die im Untergrund kunstvolles Porzellan vergräbt, um eine völlig fiktive Zivilisation zu begründen. Ihr Ziel ist es, die Geschichte zu beeinflussen, indem sie mit Hilfe des Porzellans in Zukunft Ansprüche auf ihr schwindendes Land legitimieren können. Sobald das Porzellan ausgegraben wird, beweist es die Existenz des vermeintlichen Volkes. Indem sie einen eigenen Mythos kreieren, wird das Vergraben zu einer historischen Intervention, die de facto eine Nation schafft.
Die Fotografin Julia Steinigeweg erforscht in ihren Arbeiten neue Technologien und deren zunehmenden Einfluss auf die Gestaltung der Realität und somit auch des gesellschaftlichen und sozialen Zusammenlebens haben. Für die SerieI think I saw her blinkist sie nach Singapur gereist, um eine Professorin zu treffen, die ihr eigenes Roboter-Double erschaffen hat. Dort fand sie sich an einem Ort wieder, an dem die Grenzen zwischen Realität, Fiktion und Simulation zusehends verschwimmen. Die entrückt und teils dystopisch erscheinenden Fotografien von Menschen, Architekturen und sogar der Natur wirken artifiziell. Alles ist in perfekter Ordnung. Platz für Zufälle oder organisch gewachsene Strukturen scheint es in dieser „neuen“ Welt nicht zu geben. Denn „die Simulation bahnt sich als eigenständige Kraft einen Weg aus der Peripherie ins Zentrum der Lebenswelt der Bevölkerung. Das Prinzip von Realität wird durch die perfekte Simulation in Frage gestellt.“, so Steinigeweg. Indem sie die Diskrepanz zwischen tatsächlicher und simulierter Realität in den Fotografien aufzeigt, unternimmt sie den Versuch, einen Ausblick darauf zu geben, wie sich die Gegenwart noch von der zu erwartenden Zukunft unterscheidet und warum es sich lohnt, das Menschliche, das Natürliche und das Unerwartete zu behüten.
Der Ausgangspunkt des multimedialen Werkes von Emma Talbot sind subjektive, intuitive Zeichnungen, aus denen sowohl feine, aus Seide gefertigte Malereien, als auch dreidimensionale Skulpturen und Videoanimationen entstehen. Ihre Arbeiten handeln von der Bedeutung ein Individuum zu sein, dass in eine komplexe Welt eingebunden ist und diese reflektiert. Ihre zunächst sehr subjektiven, aus der inneren Gedanken- und Gefühlswelt entstehenden Manifestationen werden in das Außen – also in die Gegenwart, mit all ihren Problematiken, wie beispielsweise den Dynamiken von Politik und Macht oder unserem Umgang mit der Natur – eingebunden. Formal kombiniert Talbots Bildsprache Figürliches mit Ornamentik und Mustern sowie mit eigenen, und Texten anderer Literaten und Poeten. Sie erschafft traumhafte energiegeladene Bildwelten, die zugleich Raum für unsere Gedanken und Emotionen bieten. Ihre Figuren sind immer auf der Suche nach dem Sinn ihrer Existenz im Hier und Jetzt. Somit handeln die Werke von Emma Talbot immer auch vom Verhältnis des Menschen zum Universum und der Beziehung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft.
Melike Kara (*1985) hat an der Kunstakademie Düsseldorf bei Rosemarie Trockel studiert. Ihre Werke wurden u.a. im Witte de With Center for Contemporary Art, Rotterdam, im Wiels Contemporary Art Centre, Brüssel, dem Yuz Museum, Shanghai, im Kunstverein Göttingen und dem Kölnischen Kunstverein sowie dem Ludwig Forum Aachen gezeigt. Melike Kara lebt und arbeitet in Köln.
Soren Lind(*1970) ist ein dänischer Autor, Künstler, Regisseur und Drehbuchautor. Mit einem Hintergrund in Philosophie schrieb Lind Bücher über Geist, Sprache und Verständnis, bevor er sich der Kunst, dem Film und der Fiktion zuwandte. Er hat Romane und Kurzgeschichtensammlungen veröffentlicht. Seine Kinderbücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Lind stellt seine Filme weltweit in Museen, Galerien und auf Filmfestivals aus. Seine Arbeiten wurden u.a. im dänischen Pavillon auf der 58. Venedig Biennale gezeigt, bei Copenhagen Contemporary, im MoMA, in der Nikolaj Kunsthal, Kopenhagen, der Berlinale, dem International Filmfestival Rotterdam und dem BFI London Film Festival.
Larissa Sansour(*1973) hat Bildende Kunst in Kopenhagen, London und New York studiert. Ihre Werke wurden u.a. im Centre Pompidou, in der Nikolaj Kunsthal, Kopenhagen, der Tate Modern, bei der Liverpool und Istanbul Biennale und dem Rotterdam Film Festival gezeigt. Zur 58. Venedig Biennale hat sie 2019 mit der InstallationHeirloomden dänischen Pavillion bespielt. Larissa Sansour lebt und arbeitet in London.
Julia Steinigeweg(*1987) hat Kommunikationsdesign und Bildende Kunst an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften und der Hochschule für bildende Künste in Hamburg studiert. Ihre Arbeiten wurden u.a. in den Deichtorhallen Hamburg Haus für Photographie, dem NRW Forum, Düsseldorf, der Daegu Photo Biennale, Südkorea, sowie dem Künstlerhaus Dortmund ausgestellt. Zu ihren Kunden gehören zudem . die ZEIT, GEO, das monopol Magazin, die Welt am Sonntag oder das SZ-Magazin. Julia Steinigeweg lebt und arbeitet in Berlin.
Emma Talbot(*1969) hat Bildende Kunst und Malerei am Birmingham Institute of Art & Design und dem Royal College of Art, London, studiert. Ihre Werke wurden u.a. in der Kunsthalle Giessen, dem GEM Kunstmuseum voor Actuele Kunst, The Hague, im Kunsthaus Pasquart, Biel und dem NAK Neuen Aachener Kunstverein gezeigt. 2020 hat sie den Max Mara Prize for Woman gewonnen und nimmt 2022 an der 59. Venedig Biennale teil. Sie lebt uns arbeite in London.
Text / Kuratorin: Hannah Eckstein
To romanticise the world is to perceive it as a continuum in which everything is connected to everything else. Only through this poetic act of romanticisation does the original totality of the world become foreseeable and communicable as its actual meaning in the work of art. (Novalis)
Mankind’s knowledge of the nature of things and their interrelationships has never been as extensive and differentiated as we are experiencing in the 21st century. Nevertheless – or precisely because of this – our world appears as complex as never before. Science, factuality, and empiricism are the foundations of every enlightened, modern society. But what happens when, despite all rationality, it is no longer possible to make universally valid statements about the totality of the world?
With Melike Kara, Larissa Sansour & Søren Lind, Julia Steinigeweg and Emma Talbot, Visions or Waking Dreamsbrings together artists who reflect on the past and the present to imagine their unrealised possibilities and potentials. Their works capture the sensually experienceable world and bundle its essence as well as the things, events and actions that constitute it. Thereby, conveying a kind of world-perception which enables a poetic and perhaps even a holistic grasp of the world in the first place.
Recurring themes in Melike Kara’s paintings and installations are interpersonal communication and the question of how individual and collective stories are told, and identities are constructed. While her earlier paintings used a figurative formal language, the boundary to abstraction in her more recent paintings is visibly blurred. As a result, only scattered silhouettes can be glimpsed here and there. These formal characteristics are an expression of the Kara’s ongoing preoccupation with consciousness, identity, and her own Kurdish-Alevi roots. She draws from her personal archive, which she has compiled over the years from various sources, and which attempts to document and preserve the history and traditions of the stateless Kurdish people through photographs, memories and narratives of events, myths, and rituals. Melike Kara vehemently opposes forgetting and creates a poetic historiography that focuses on the personal and individual rather than the collective.
Larissa Sansour is a Palestinian artist whose practice repeatedly uses elements of pop culture and science fiction to address political and social issues and to illuminate the complex realities of life in Palestine and the Middle East. Her multimedia work includes sculptures, photographs, and installations. She also creates visually powerful films for which she collaborates with the screenwriter, director, and writer Søren Lind (*1970). Their joint film In the Future They Ate From the Finest Porcelain (2015) explores the field of tension between science fiction, archaeology and politics and examines the role of myths for history, for facts and for the formation of national identity. It tells of a resistance group creating underground deposits of elaborate porcelain – suggested to belong to an entirely fictional civilization. Their aim is to influence history and support future claims to their vanishing lands. Once unearthed, this tableware will prove the existence of this counterfeit people. By implementing a myth of its own, their work becomes a historical intervention which de facto creates a nation.
In her work, photographer Julia Steinigeweg explores new technologies and their increasing influence on the shaping of reality and thus on social and societal coexistence. For the series I think I saw her blink, she travelled to Singapore to meet a professor who had created her own robot double. There she found herself in a place where the boundaries between reality, fiction and simulation are becoming increasingly merged. The photographs of people, architecture and even nature, seemingly distant and sometimes dystopian, appear artificial. Everything is in perfect order. There seems to be no room for coincidences or organically grown structures in this “new” world. For “simulation, as an independent force, is making its way from the periphery into the centre of the population’s living environment. The principle of reality is called into question by the perfect simulation,” says Steinigeweg. By pointing out the discrepancy between actual and simulated reality in the photographs, she attempts to give an outlook on how the present still differs from the expected future and why it is worthwhile to guard the human, the natural and the unexpected.
The starting point of Emma Talbot’s multimedia work are subjective, intuitive drawings, from which fine silk paintings, three-dimensional sculptures and video animations are created. Her work addresses the meaning of being an individual, which is both integrated in and contemplating a complex world. Initially very subjective, her manifestations arise from the inner world of thoughts and feelings. Gradually, they are integrated into the external – into the present, with all its problems, such as the dynamics of politics and power or the irresponsible dealing with nature. Formally, Talbot’s imagery combines figuration with ornamentation and patterns as well as with her own texts and those of other writers and poets. She creates dreamlike, energetic visual worlds that at the same time offer space for our own thoughts and emotions. Her figures are always searching for the meaning of their existence in the here and now. Thus, Emma Talbot’s works always emphasize the human connection to the universe and the relationship between past, present and the future.
Melike Kara (*1985) studied at the Düsseldorf Art Academy in the class of Rosemarie Trockel. Her works have been shown at the Witte de With Center for Contemporary Art, Rotterdam, the Wiels Contemporary Art Centre, Brussels, the Yuz Museum, Shanghai, the Kunstverein Göttingen and the Kölnischer Kunstverein as well as the Ludwig Forum Aachen, among others. Melike Kara lives and works in Cologne.
Soren Lind (*1970) is a Danish author, artist, director and scriptwriter. With a background in philosophy, Lind wrote books on mind, language and understanding before turning to art, film and fiction. He has published novels, shorts story collections. His children’s books are translated into several languages. Lind screens and exhibits his films at museums, galleries and film festivals worldwide. His work was shown at the Danish Pavilion at the 58th Venice Biennial. Other recent venues and festivals include Copenhagen Contemporary, MoMA, Barbican, Nikolaj Kunsthal, Kopenhagen, Berlinale, International Film Festival Rotterdam and BFI London Film Festival.
Larissa Sansour (*1973) studied fine arts in Copenhagen, London and New York. Her works have been shown at the Centre Pompidou, the Nikolaj Kunsthal, Copenhagen, the Tate Modern, London, the Liverpool and Istanbul Biennials and the Rotterdam Film Festival. For the 58th Venice Biennale in 2019, she was featured in the Danish Pavilion with the installation Heirloom. Larissa Sansour lives and works in London.
Julia Steinigeweg (*1987) studied communication design and fine arts at the University of Applied Sciences and the University of Fine Arts in Hamburg. Her work has been exhibited at the Deichtorhallen Hamburg Haus für Photographie, the NRW Forum, Düsseldorf, the Daegu Photo Biennale, South Korea, and the Künstlerhaus Dortmund, among others. Her clients also include ZEIT, GEO, monopol Magazin, Welt am Sonntag and SZ-Magazin, among others. Julia Steinigeweg lives and works in Berlin.
Emma Talbot (*1969) studied fine art and painting at the Birmingham Institute of Art & Design and the Royal College of Art, London. Her works have been shown at Kunsthalle Giessen, GEM Kunstmuseum voor Actuele Kunst, The Hague, Kunsthaus Pasquart, Biel, and NAK Neue Aachener Kunstverein, among others. In 2020 she won the Max Mara Prize for Woman and will participate in the 59th Venice Biennale in 2022. She lives and works in London.
Text / Curator: Hannah Eckstein
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