Regula Dettwiler
It’s my Nature
Wo Regula Dettwiler die Regie übernimmt, da bestimmen Pflanzen den Ort des Geschehens. Im Sinne unseres Ausstellungstitels könnte man sagen, „It’s her nature“, es liegt in ihrer Natur, oder: So ist die Künstlerin eben. Aber dieser Titel lässt sich auch anders verstehen, denn er enthält im Kern genau das, was ihre Kunst ausmacht: Tatsächlich sind die pflanzlichen Bilder und Installationen nichts weniger als Dettwilers(!) Natur, eine von ihr gemachte nämlich – und das ist ihre Kunst!
Wenn wir die Geschichte der Natur, die Benennung ihrer Flora und Fauna als menschlichen Versuch verstehen, das „Chaos” der Natur zu ordnen, zu begreifen, zu definieren und damit beherrschbar zu machen, dann stellt sich die Frage, ob nicht alles, was wir an „Natur” wahrnehmen, bereits als Projektion, bzw. Konstruktion gemäß unseren Vorstellungen von einer „natürlichen” Welt erscheint.
Dettwiler konfrontiert uns mit einer ganzen Wand solcher „Konstruktionen“ in ihren äußerst dekorativ anmutenden Aquarellen von exotischen Blumen und Pflanzen. Was wir sehen, ist die bis ins äußerste Detail gehende Darstellung pflanzlicher Bestandteile, die nicht nur auf eine exzellente Beherrschung des künstlerischen Handwerks, sondern auch auf eine geradezu wissenschaftliche Beobachtung schließen lässt. So erkennen wir bei näherer Betrachtung, dass beispielsweise am Stängel der Orchidee die fleischigen Blätter nicht nur abgelöst, sondern zudem mit Draht versehen sind und mit einem Textilband zusammengehalten werden. Unter den rechts und links davon aufgereihten Blütenteilen findet sich außerdem der Hinweis, dass Stempel und Blütenblätter jeweils 3x bzw. 6x vorhanden sind. Dettwiler imitiert in diesen Darstellungen eine Methode der Naturforscher aus dem 18. Jahrhundert, indem sie, gleichsam als Botanikerin, eine Sammlung künstlicher Orchideen anlegt, diese auseinandernimmt, um sie dann in einem akribischen Malverfahren in Aquarellen festzuhalten und zu definieren. Jedes Blatt trägt entsprechende Angaben zur Art der Pflanze, ihrer Herkunft und ihrem Fundort. Diese scheinbar harmlosen Hinweise haben es in sich, denn sie geben Aufschluss über Dettwilers künstlerische Praxis.
Um künstliche Orchideen ausfindig zu machen, begibt sich die Künstlerin regelrecht auf die Pirsch. Dabei streift sie durch die Shopping Malls dieser Welt – in Rom, London, Chicago, Las Vegas, Tokio, New York und Montreal. Die exotische Orchidee aus Stoff und Plastik findet sich überall und wird damit zum pars pro toto eines in den Industriegesellschaften gleichgeschalteten Naturverständnisses, in dem landestypische Pflanzen und regionale Besonderheiten verdrängt werden. (Selbst das Alpenveilchen stammt aus chinesischer Produktion und wird weltweit vertrieben.) Indem die Künstlerin diese Nachbildungen auseinandernimmt und entblättert, gibt sie vor die Struktur der Pflanze offenzulegen. Tatsächlich aber zerlegt sie sie in die Bestandteile, die aus produktionstechnischen Gründen angefertigt wurden, um diese Blumen – vorzugsweise in China, Taiwan und Korea – industriell produzieren zu können. Es sind Konstruktionszeichnungen von einer „Natur”, die nur noch als Repräsentation zu haben ist. Gleichzeitig macht sich bei der Betrachtung ihrer faszinierenden und wunderschönen Aquarelle ein gewisses Unbehagen bemerkbar – in der nüchternen Erkenntnis darüber, dass die Künstlerin uns hier vor eine unheimliche Tatsache stellt: Die Natur ist einer lebensechten Nachbildung gewichen, die mit derselben künstlerischen Aufmerksamkeit behandelt wird, wie einstmals die lebenden Pflanzen.
Doch wir begegnen in dieser Ausstellung auch wirklichen Pflanzen, die oben auf der Empore eine Art Psycho-Raum bewohnen. Dabei lässt sich ein Raum nicht so einfach in Worte fassen, in dem sich Bilder, Pflanzenformen und Ornamente gleichzeitig in unser Bewusstsein drängen. Auf den ersten Blick ist es ein ganz behaglicher Raum, der, üppig ausgelegt mit reich gemusterten Perserteppichen, zum Verweilen einlädt. Doch wer sich auf die Liege setzt, den beschleicht durchaus eine gewisse Beklemmung angesichts der pflanzlichen Rorschachbilder, die durchaus imstande sind mit ihren Assoziationen Unbewusstes zutage zu fördern. So ist es gerade nicht die dekorative Pflanzenwelt, die uns hier begegnet, sondern eine Art Mischform organischer Erscheinungen – eine Kreuzung aus Pflanze und Insekt, wie sie nicht schöner in einer Kunst- und Wunderkammer der Renaissance zu finden wäre.
Und dann gibt es die Gummibäume, deren Blätter mit unterschiedlichen Bordüren verziert sind, die gleichsam aus ihnen herauszuwachsen scheinen. Da begegnet uns ein Rüdiger, der sympathische Gummibaum von nebenan, der nette von der pflegeleichten Sorte – eine Art guter Kumpel, den Dettwiler mit bommelartigen Blatträndern ausgestattet hat. Oder ein Sigmund mit grünen Fransen, der etwas von einem Öko-Aktivisten hat sowie einen etwas kapriziösen Albert, dessen Blätter von grauer Spitze eingerahmt sind.
Dettwiler bezeichnet sie als Porträts, das heißt, ihre gestylten Zimmerpflanzen werden zu Projektionen – so wie die Natur allgemein zur Projektion menschlicher Befindlichkeiten und Bedürfnisse wird. Oder wie der Schriftsteller Heinrich Steinfest es formuliert, „Topfpflanzen, die nahe dem Menschen lebend, ihm mit der Zeit ähnlich werden: schwärmerisch, barock, schwermütig, übermütig, geschwätzig, suizidal. Topfpflanzen haben keine Meinungen und sind deshalb in jede Richtung manipulierbar…” Sie begegnen uns mit der Frage, wo hier die Grenzen zwischen Natur und Kunst verlaufen und ob solche Unterscheidungen in unserer Welt überhaupt noch auszumachen sind.
Um diese Verunsicherung noch zu steigern, sind wir umgeben von unheimlich anmutenden Bildern, die Dettwiler aus herbarisierten Blättern geschnitten hat. Sie bezeichnet sie als „Rorschachbilder“ und bezieht sich damit auf die gleichnamigen Klecksbilder, die bei psychodiagnostischen Testverfahren eingesetzt werden. Betrachtet man Dettwilers Rorschach-Scherenschnitte aus der Ferne, so scheinen sie den Tintenklecksbildern wirklich zum Verwechseln ähnlich: Ihre Symmetrie, ihre assoziativen Formen sehen nicht anders aus, als hätte die Künstlerin hier tatsächlich Tinte in einem Blatt Papier zu albtraumartigen Fratzen und grotesken Falter- und Insektenstudien verlaufen lassen. Doch bei näherer Betrachtung geben sich ihre „Kleckse” als gepresste Blätter von heimischen Bäumen und Sträuchern zu erkennen – grünlich-braun mit Adern und Stilen. Die Blattränder sind ausgefranst oder teilweise gezackt und eingeschnitten, so dass ein unregelmäßiger Umriss entsteht, der vielfältige Assoziationen auslöst.
Wir stoßen also auf Darstellungen, die wir zu kennen glauben, um dann festzustellen, dass es sich um konstruierte Bilder handelt, die durch Beschneiden, Collagetechnik und andere Manipulationen entstanden sind. Die bereits bei den Rorschach-Klecksbildern vorhandene assoziative Vielfalt wird durch die Blattstruktur verstärkt, die organische Formen, wie Fledermausflügel, Geäst, Insektenbeine u.a. suggeriert, wobei die hautähnliche Oberfläche und die Fragilität des getrockneten Blattes eine wichtige Rolle spielt. Doch im Unterschied zu den Klecksbildern der Rorschachtests muten Dettwilers Bilder eher wie Objekte an. Schließlich handelt es sich um herbarisierte Pflanzen und nicht um Malerei oder Zeichnung. Die „Natur” ist hier nicht mehr das Objekt der Betrachtung, sondern das Werkzeug für eine Kunst, die es darauf anlegt eine bestimmte eigene „Natur” herzustellen. Diese Position kommt nicht von ungefähr und reflektiert eine Entwicklung, die spätestens mit dem Durchbruch der Gentechnik auch in der Kunst nicht ohne Folgen bleiben kann: Wir müssen davon ausgehen, dass eine Natur, die nicht bereits vom Menschen definiert, manipuliert und damit der Kultur vorgängig ist, nur noch bedingt existiert. Naturereignisse, Naturkatastrophen und Wetterphänomene sind ebenso durch die Eingriffe des Menschen beeinflusst wie genetisch veränderte Pflanzen und Tiere. Was wir als Natur wahrnehmen, hat ausschließlich mit dem zu tun, was als „Natur” im Gegensatz zu Kultur definiert wird. Auf dieser Opposition gründet sich unser westliches Natur- und damit auch unser Selbstverständnis. So spiegeln sich in unseren „Natur”-Bildern Sehnsüchte und Ängste, die daraus resultieren, dass wir uns außerhalb der Natur denken.
Regula Dettwiler setzt verschiedene künstlerische Methoden ein, um den Strategien und Repräsentationsformen dieser naturalisierten Künstlichkeit auf die Spur zu kommen. Mit ihren aquarellierten Herbarien artifizieller Orchideen und ihren Spitzenpflanzen-Porträts lässt sie eine eigene, vermeintlich „natürliche” Kunstwelt entstehen. Dazu gehört auch das, was wir die ganze Zeit schon als Singen und Zwitschern im Hintergrund hören: Die Soundinstallation Bird Karaoke, bei der die Künstlerin Vogelstimmen nach ihren eigenen Vorstellungen und stimmlichen Möglichkeiten zusammengestellt hat.
Mit den seit 2010 entwickelten Rorschach-Bildern schließlich dringt sie bis in die Erfahrungen des Unbewussten vor, um sichtbar zu machen, dass die Konstruiertheit und Manipulierbarkeit von Leben bis in die tiefer gelegenen Strukturen unserer eigenen Natur eingreift – in unsere Gene und unsere Psyche. In ihren Bildern und Installationen äußert sich dieses Unbehagen an der Natur auf mehreren Ebenen: Zum einen, indem die Künstlerin die wahre, d. h. künstliche „Natur” ihrer Werke erst auf den zweiten Blick zu erkennen gibt und uns damit als Betrachter verunsichert. Mit der aquarellierten Zeichnung wählt sie eine der anspruchsvollsten künstlerischen Techniken, um dann nichts anderes darzustellen als eine Plastikblume. Umgekehrt fragen wir uns, wie „echt“ denn ein Gummibaum sein kann, der an den Rändern seiner Blätter goldene, weiße oder blaue Spitzen hervorbringt. Doch die Künstlerin geht noch einen Schritt weiter und arbeitet – wie in den Rorschach-Bildern – mit dem „unheimlichen”, „monströsen” Erscheinungsbild zusammengestückelter biologischer Materialien und nutzt ihr Potenzial zur tiefenpsychologischen Analyse für eigene Zwecke: Meines Erachtens potenziert Dettwiler die assoziative Seite dieser Bilder, indem sie das Kunstmaterial (Tinte) durch natürliches Material (getrocknete Blätter) ersetzt. Sie setzt die Fragilität und Vergänglichkeit der Blätter bewusst ein, um uns zu verunsichern. So treffen die Rorschach-Blätter unmittelbar ins tiefenpsychologische Zentrum unseres Unbehagens an einer Natur, die uns längst abhanden gekommen ist. Das natürlich Gewachsene existiert also nicht mehr nur in Konkurrenz zum Industrieprodukt, tatsächlich steht durch genetische Programmierung seine gesamte Existenz in Frage.
Vgl. Heinrich Steinfest, Können Bäume träumen?, in: Stuttgarter Zeitung, 6. Februar 2012, S. 11.
Kuratorin: Dr. Andrea Jahn