Tamara Goehringer

HEAVY WATER (floated through her winters and summers)

Ein Fabelwesen, in seiner Gestalt halb Frau, halb Fisch. Es ist ungesehen, aber als Mythos der Meerjungfrau, Sirene oder Nixe weit bekannt. Die Wasserfrau lebt im tiefen Gewässer. Und sie wartet auf Erlösung. Der Kunstverein Friedrichshafen präsentiert die Ausstellung HEAVY WATER (floated through her winters and her summers) und zeigt vier künstlerische Neuproduktionen von Tamara Goehringer.

Ich liebe das Wasser, seine dichte Durchsichtigkeit, das Grün im Wasser und die sprachlosen Geschöpfe (und so sprachlos bin auch ich bald!), mein Haar unter ihnen, in ihm, dem gerechten Wasser, dem gleichgültigen Spiegel, der es mir verbietet, euch anders zu sehen. Die nasse Grenze zwischen mir und mir…
Ingeborg Bachmann, Undine geht…, 1961

Das Zitat von Ingeborg Bachmann aus ihrem Monolog Undine geht… antwortet auf eine mystische und vielschichtige Art und Weise auf das paradoxe Verhältnis der Wasserfrau Undine zur menschlichen Welt. Zum einen sehnt sie sich nach Liebe, nach dem Menschsein am Ufer, nach Überwindung von Lebensräumen. Gleichzeitig fühlt sie sich dort betrogen, verlassen und eingesperrt. Ihre Antwort besitzt eine dichte Durchsichtigkeit, die wie ihr Spiegelbild im Wasser zwischen Selbsterkenntnis und Selbstaufgabe changiert. Wassergeister wie Undine verkörpern eine fremde, im Wasser tief verankerte und unterbewusste Entität. Das Motiv einer Meerjungfrau fasziniert seit den Sirenen der homerschen Odyssee und wird bis heute auf widersprüchliche Art und Weise behandelt: zum einen in überspitzter Sexualisierung, als erotische Gefahr, zu rettender Geist und gleichzeitig eben als Bachmannsche Befreiungsakteurin.

Charakteristisches Merkmal der Meerjungfrauist ihre Erlösungsbedürftigkeit. Meist handelt es sich um ein verdammtes, seelenloses Wesen, das nur durch die Liebe eines Mannes von seinem Schicksal befreit werden kann. Sollte diese Liebe nicht erfüllt werden, muss sie zurückkehren ins Wasser, muss sich auflösen. In der Tragödie ihres Todes und in ihrer Rückkehr beobachtet Tamara Goehringer etwas Ermächtigendes:

Die Wasserfrau als ein Wesen zwischen den Elementen; ein Wesen, das die Macht besitzt, die vermeintlichen Dualismen von Gut und Böse, Wasser und Luft, Dunkelheit und Licht, Frau und Mann in sich zu vereinen. Diese Beobachtung gibt Goehringer auf einer sich über zwei Wände erstreckenden Wandmalerei wieder. Sie nutzt diese ursprünglichste, fest mit dem Bilduntergrund verbundene und ephemere Form der Darstellung, um aus den bestehenden Geschichten und Mythen über die Wasserfrau und ihrer Tode ein zeitgenössisches Märchen zu entwickeln. Ein Wesen, das Gegensätze vereint, ein Hybrid einer möglichen Zukunft. Diese Geschichte verläuft nicht linear, sondern sie wirkt wie Tropfen in einem Meer aus Bildern. Sie erzählt vom magischen Unterwasser und gefährlichen Tiefen. Wasserkörper, die sich zwischen den Geschlechtern bewegen und sich jeder klaren Definition entziehen, erzählen von Andersartigkeit, von Halb(an)wesenheit. Diese lebendigen Geister im Wasser stürzen die Mauern von Realität. Sie zeigen die Möglichkeit der Existenz von etwas alternativem, tief begraben im See. So verschwimmen Tatsächlichkeit und Fiktion, Sexualität und Loslösung, Spiegelbild und Unterbewusstes, erotische Begierde versus verführerische Gefahr. In Form von Performance, Video, Zeichnung und Skulptur hinterfragt Goehringer Zusammenhänge zwischen Sprache, Text und Form und gesellschaftlichen Mustern, sowie Normen in einer alltäglichen Umgebung. In ihre theoretische Recherche fließen dafür zeitgenössische Popkulturen und antike Mythen gleichermaßen ein und entwerfen eine für die Künstlerin spezifische Narration, die oft nur referentiell Grenzen im eigenen Denken aufbrechen lässt.

Goehringer beschäftigt sich in ihren Arbeiten auch mit den körperlichen Grenzen, mit Differenzierungen zwischen psychischen und physischen Existenzen, und verwischt diese. Mit der Skulptur obsesión geht die Künstlerin genau auf diese Fragen ein. Silikon umschließt den Netzkörper mit einer zweiten, schuppenartigen Haut, die nicht mehr von diesem menschlichen Netzkörper abzutrennen ist. Hier zitiert Goehringer einerseits die Bronzefigur Den lille Havfrue (Kleine Meerjungfrau) des Bildhauers Edvard Eriksen in Kopenhagen. Andererseits ist sie ein Hinweis auf die allgegenwärtige und konsumorientierte Popkultur, in der Identitäten, Genderrollen und Zugehörigkeiten immer wieder wie Häute übereinander gezogen werden. Der Titel der Arbeit ist eine Anspielung auf den gleichnamigen Popsong der Bachata Band Aventura. Dieser und auch alle anderen Titel der Arbeiten in der Ausstellung sind in Goehringers Soundarbeit im Obergeschoss erhörbar. Denn ein lockender Gesang ist durch die gesamten Ausstellungsräume hallend vernehmbar. Er scheint aus dem See zu stammen und klingt verzerrt. Die Soundarbeit say my name (it‘s gonna be lonely) wird mal leiser wie ein Flüstern, mal laut durch die Räume nachklingen. Say my name (it‘s gonna be lonely) ist ein Echo aus 41 Popsongs der letzten Jahrzehnte. Goehringer flüstert, singt und liest einzelne Textpassagen ausgewählter Lieder und verbindet diese mit ihrer theoretischen Recherche und Auseinandersetzung.

Dabei nähert sie sich einer sirenenhaften Stimme, die Betrachtende einnimmt und auch abschreckt. Ob es eine Sirene, zwei wie bei Homers Odyssee oder ein ganzer Schwarm ist, lässt sich nicht immer heraushören. Anhand von Rhythmen und künstlich erzeugten Effekten taucht der*die Zuhörer*in in diesem Sprach- und Wortmeer unter. Die Popsongs nähren den Mythos der verführerischen (Wasser-)Frau, die aus dem Nichts auftaucht und wieder verschwindet. Sie birgt eine Gefahr für die Menschen und insbesondere Männer, mit denen sie eine Beziehung eingeht. Das Licht bricht sich in den tausenden Spiegeln einer Discokugel und wird als kleine Lichtreflexionen an die Wand geworfen. Wie in einem pinken Rausch erfüllen sie den Raum mit einer Schwerelosigkeit, hüllen ihn in flimmerndes, glitzerndes Licht: underwater.

In Bachmanns Undine geht… wird Undine nicht nur verlassen, sie emanzipiert sich gleichermaßen genau dadurch. Ich werde nie wiederkommen, nie wieder Ja sagen und Du und Ja. Es ist eine Befreiung von dominierenden Gesellschaftsformen, ein Aufbegehren gegenüber ihren geschlechterbestimmten Aufgaben. Bachmann integriert ein wichtiges Element in den bekannten Undine-Stoff: Die Unmöglichkeit der Liebeserfüllung zwischen Wassergeist und Mann ist hier kein tragisches, sondern eine Unabhängigkeit stiftendes Element. Mithilfe der Spiegelung im Wasser erkennt und emanzipiert sich die Nixe. Unda, (lat.: Welle), so fühlt sich der Abgang von Undine bei Bachmann an; Sie nimmt ihr ihre Schwäche, sie bäumt sich auf und: sie geht.

Text und Kuration: Marlene A. Schenk