Xiaopeng Zhou
Swamping
So ein Haus mitten im Moor, ohne Nachbarschaft (abgesehen von einigen fremden Bauernhöfen), an keiner Straße gelegen und von keinem Menschen gefunden, ist eine gute Zuflucht, ein Ort, mit dem man bald durch ein unscheinbares Mimikry verschmilzt, und geeignet, nach vorwärts und nach rückwärts in Zukunft und Erinnerung ruhig und voll Gleichgewicht zu leben. (Rainer Maria Rilke an Franziska von Reventlow, 1901)
Rainer Maria Rilkes Poesie eignet sich für Erkundungen der besonderen Art. Man muss nicht weit wegfahren und hat doch, wenn man sich einlässt, großen inneren Gewinn – denn Rilke ist der Dichter der Sehnsucht.[1] In der 1903 erstmals aufgelegten Monografie „Worpswede“ wandelt der Dichter Werke fünf Worpsweder Künstler[2] in sprachliche Gemälde um. Aus Bildbeschreibungen und Künstlerbiografien zaubert Rilke eine Ode an die Moorlandschaft.[3] Das Moor ist nicht mehr farblos und öde. Es ist nicht mehr schauerlich, sondern großartig. Und es ist der ideale Gegenstand für die Malerei.[4]
Eine solche Sehnsucht, eine Einswerdung mit der doch manchmal argen Landschaft des Moors, erweckt die Ausstellung von Xiaopeng Zhou swamping im Kunstverein Friedrichshafen. Für seine Einzelausstellung präsentiert Zhou sein jahrelanges Interesse an Geologie vor allem in Form von Zeichnungen und installativen Elementen. Feine Striche und Schattierungen ziehen sich durch seine zeichnerischen Serien. Eine Einordnung, welche Orte und Pflanzen er hier beschreibt, ist erstmal eine Herausforderung. Wie das Moor zwischen Erde und Wasser, zwischen fest und flüssig changiert, so tun es die vielen auf den ersten Blick schlicht wirkenden Zeichnungen, die im Ausstellungsraum hängen. Die vielen Perspektiven und Winkel, aber auch das Display der Arbeiten und ihre Präsentation, laden wie Rilkes Poesie zu einer speziellen Form der Erkundschaftung ein.
Das Moor – offenes und bewirtschaftetes Ökosystem, karge Landschaft, öde, rau, unheimlich. Und auch: das Moor als Renaturierungsprojekt und als CO2-senkende Hoffnung, dem Klimawandel entgegenzuwirken. Der Bärlapp ist eine Pflanzenart, die im Moor ansässig ist. Oft auch als „lebendes Fossil“ bezeichnet, sind Pflanzen dieses Lycopodiums, so seine lateinische Bezeichnung, unauffällige 20–30 cm groß und wachsen auf Waldböden oder in Feuchtgebieten, in die sich der Künstler für swamping (abgeleitet von dem englischen wort swamp, dem Moor- oder Sumpfgebiet) begeben hat. Das besondere an Bärlapp ist, dass er die Struktur der ersten Urpflanzen beibehalten hat, bei denen Stängel, Blätter und Wurzeln nicht klar voneinander getrennt sind. Solche Merkmale lassen sich auf mehr als 400 Millionen Jahre zurückführen.
In Form des gezeichneten Bärlapps treffen sich in Zhous zeichnerischem Werk dokumentarischen Feinsinn und Vergänglichkeit überschreitende Imagination. Er kombiniert in seinen Darstellungen Spuren paläontologischer Wissenschaftserkenntnisse mit autodidaktischen Beobachtungen. In der Beiläufigkeit der Motivwahl erinnern seine Arbeiten an das Vergessene, an Wachstum und Verfall, an Altern und Fortschreiten.
Die präsentieren Arbeiten sind teils ortsspezifisch entwickelt worden, Zhou hat dafür die Moore um den Bodensee bereist. Dabei greift er regional-ökologische Entwicklungen um Süddeutschland auf, die er aber auch durch Recherchen in der Paläontologischen Abteilung des Naturkundemuseums in Berlin sammeln konnte. Die Ausstellung besteht auch deshalb aus zwei Teilen: einer Sammlung von Schwarz-Weiß-Zeichnungen im Erdgeschoss und einer Verlagerung von Fundstücken, anderen Objekten und Tabletts ein Stockwerk darüber.
In seiner reinen Konzentration auf das Wesentliche lässt die Zeichnung Zhous dabei absichtlich viel aus. Es gibt keinen Bildhintergrund, diese Leerstellen sind bewusst gesetzt – nichts anderes passiert als eine akribische Erkundung seiner gewählten Objekte. Diese Leerstellen zeigen sich auch im oberen Stockwerk, verblichene Spuren von menschlicher Sortierung weisen mehr auf Forschungsergebnisse und Einordnungen hin, als dass sie wirklich welche präsentieren. Diese Analyse und Präzision in Zhous Arbeiten, die Dichte seiner Thematik, löst er auf in der bedächtigen Freiheit seiner Motive auf weißem Papier. Die Stockwerke vermengen sich so zu einer zeitlosen Abbildung dieses mystischen Ortes Moor: es wird ein Ort, der Jahrtausende miteinander verschmilzt, so wie Rilke es schon 1901 gesagt hat, „nach vorwärts und nach rückwärts in Zukunft und Erinnerung“.
Kuration und Text: Marlene A. Schenk
[1] Johannes Heiner: Die Stille hinter den Worten des Dichters Rainer Maria Rilke, 2008.
[2] Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Fritz Overbeck, Hans am Ende und Heinrich Vogeler.
[3] Rainer Maria Rilke: Worpswede. Monographie einer Landschaft und ihrer Maler, 2012.
[4] Günter Beyer: Eine Lange Nacht über das Moor. Es wankt und wuchert und schweigt, 2019.