Birgit Dieker

The Big Striptease

Wenn wir den Skulpturen von Birgit Dieker begegnen, dann handelt es sich dabei in gewissem Sinne auch um eine Begegnung mit uns selbst. Denn ihre Figuren und Objekte bestehen nicht aus traditio-nellen bildhauerischen Materialien, wie Stahl, Marmor oder Holz. Sie sind aus Stoff, genauer gesagt, aus Kleidungsstücken, die bereits jemand getragen hat, Kleider mit einer eigenen Geschichte, einer „zweiten Haut“, in die sich menschliche Empfindungen, körperliche und seelische Befindlichkeiten eingeschrieben haben. 

Seit 2006 entwickelt Birgit Dieker ihre Skulpturen aus gebrauchten Kleidern, indem sie sie zusammennäht und schichtet – um sie dann durch Schnitte und Öffnungen zu verfremden und zu fragmentieren. Auffallend ist, dass die Künstlerin in diesen Figuren nicht nur Körperteile weglässt, sondern ihre Körper regelrecht aufbricht, um ihrer „Identität“ auf den Grund zu gehen. So werden unter der ästhetischen, perfekten Oberfläche, die diese Skulpturen wie eine Art Schutzhülle umschließen, Versehrtheiten und psychische Abgründe sichtbar. Für die Künstlerin ist es „die Suche nach einem Selbst, das unter den vielen Schichten von Erfahrungen und Geschichten verhüllt ist, eine Art ‚Herausschälung‘.“

Die gleichsam arm- und kopflose Rosie (2007) ist eine solche Skulptur. Sie besteht aus einem perfekt durchmodellierten Körper, der unter unzähligen Lagen von übereinandergeschichteten Kleidungs-stücken verborgen ist. So verhüllt, scheint die Figur nur aus Beinen und einer unförmigen Gestalt zu bestehen. Ein rosafarbener, geblümter Frotteesamt bildet ihre Außenhaut und vermittelt zunächst den Eindruck einer gemütlichen, vielleicht zur Naschsucht neigenden „Weiblichkeit“, die sich gern mit weichen Kissen und Kuscheltieren umgibt. Doch dieses unschuldige, naive Bild wird durch gewalt-same Eingriffe der Künstlerin regelrecht zerfetzt. Das rosa Blümchenmuster zeigt sich an vielen Stellen durch mehr oder weniger tiefe, teilweise auch brutal anmutende Schnitte bis ins Körperinnere aufgerissen und verletzt. Aus diesen klaffenden „Wunden“ quellen mehrschichtige Lagen von rotem Stoff hervor, der an der Stelle, wo das Herz sitzen müsste, eine immer dunklere Rotfärbung annimmt. Der Kopf bleibt unter der Stoffmasse verborgen. Die Beine dagegen sind am weitesten ausdifferen-ziert, bis hin zu den Zehen, die durch ein Loch in der Strumpfhose am linken Bein erkennbar werden.

Birgit Dieker findet ihr Material in Secondhandshops und spielt mit dem assoziativen Charakter dieser Kleidung – als Schutz oder auch als Maskerade, aber immer versehen mit der Geschichte derer, die sie einmal getragen haben. „Sie symbolisiert die Spannung zwischen Innen und Außen, zwischen Privatem und Öffentlichem, Verhüllen und Aufdecken“, so die Künstlerin, und verdeutlicht das, was sich im Innern verbirgt, was nicht durch die Hülle eines „ganzen“ Körperbildes nach außen dringt – seelische Verletzungen, Phobien, Widersprüche. So verwendet die Künstlerin mit den gebrauchten Kleidern einen Werkstoff, der intimer nicht sein könnte. Spuren gelebten Lebens liegen in diesen Stoffen verborgen: in direktem Kontakt zur Haut sind Körpergerüche, Parfum oder auch Schweiß zurückgeblieben, Zeichen des Körpers – Liebe und Angst, Anstrengung und Freude.

Mit Anita (2011) hat Birgit Dieker eine weitere Skulptur geschaffen, in der diese assoziative Kraft besonders deutlich wird. Sie ist durch die legendäre Berliner Tänzerin Anita Berber inspiriert. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts verkörperte sie die weibliche Verführerin, war öffentliche Person, gefeierte Sängerin und Femme fatale, die durch ihre Skandale und ihren Drogenmissbrauch ein frühes Ende fand. Dieker interessiert die Diskrepanz zwischen öffentlichem Glamour und privatem Scheitern – eine innere Zerrissenheit, die an ihrem Körper verhandelt wird. In einer eleganten, selbstbewussten Pose, mondän aufgeputzt in einem Kokon aus goldenen Pailletten, präsentiert sie ihren Körper auf einem Barhocker, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, den Blick seitlich, kokett auf den Betrachter gerichtet.

Doch auch Anita hat in ihrem Entstehungsprozess tiefe Verletzungen davongetragen, ist vom Leben gezeichnet und zugleich für ein Leben als Glamourgirl zurechtgemacht: Ihr Körper besteht aus unzähligen Schichten von Lurexkleidern, deren Glanz zum Kern hin immer stumpfer und dunkler wird. Ihr metallisch-glänzendes Paillettenkleid wirkt wie ein Panzer und ist dabei regelrecht in den Leib hineingeschnitten, sodass auch Teile des Körpers durch diese Eingriffe abgetragen, auf- oder weggeschnitten wurden. Die verbliebenen Extremitäten erscheinen wie verkümmerte schwarze Insektenbeine – eine Metamorphose, bei der mit dem verletzten Raupenkörper zugleich eine Frauenfigur zum Vorschein kommt: „Ein schillernder Körper, Kopf und Nacken wie im Kokon, auf dem Rücken fast ein Flügel: mit diesen dünnen, haarigen Beinen, präsentiert auf dem Hocker, wirkt sie wie ein aufgepiekstes Insekt,“ so die Künstlerin.

Diekers Skulpturen sind in unmittelbarem Zusammenhang mit den Tendenzen der Abject Art zu sehen, einem Begriff, der in den 1980er Jahren eingeführt wurde, um eine Kunst zu erfassen, die sich mit Körperlichkeit in ihren tiefenpsychologischen und sozialen Dimensionen auseinandersetzt. Skulpturale Werke so unterschiedlicher Künstler wie Louise Bourgeois, Kiki Smith, Mike Kelley, Robert Gober und David Hammons haben eine Materialität gemeinsam, die als nieder oder minderwertig gilt: Stoff, Latex, Gummi, Haare und Wachs. Indem sie unmittelbar auf Körperfunktionen und Spuren des Körpers verweisen, sind sie eng mit gesellschaftlichen Tabus und Traumata, persönlichen Obses-sionen und Phobien verknüpft, die unsere Vorstellungen von einem stabilen Körper-Ego unablässig torpedieren.

In ihrer gleichsam „haarigen“ Bodenskulptur Der innere Schweinehund (2005), der wir oben auf der Empore begegnen, bringt die Künstlerin das Verworfene inhaltlich und formal zur Deckung. Mit dieser Skulptur rückt sie uns regelrecht auf den Leib und rührt an unsere tiefsten Ängste und Empfindungen. Der innere Schweinehund wirkt unheimlich, fremd und abstoßend, wie er da auf der Erde liegt. Ein großer Körper, struppig und braun, hilflos wie ein erlegtes Tier. Bei näherer Betrachtung erkennen wir, dass es sich um Eingeweide handelt, aber nicht fleischlich, viszeral, sondern eher von einer filzarti-gen, haarigen Oberfläche. Es ist die vergrößerte Nachbildung von Körperteilen aus dem Innern eines Menschen, die keine Rückschlüsse mehr auf seine Identität zulassen. Die Organe wurden von ihrer Hülle, der Haut, befreit, und liegen nun offen und ungeschützt vor uns: Lungenflügel, Herz, Magen, Darm, Nervenstränge, Speiseröhre und Gehirn. Dass sie hier als trockene Masse aus Menschen- und Tierhaaren nachgebildet wurden, steigert die Irritation und Verfremdung, welche die Künstlerin bereits durch eine stark vergrößerte Darstellung in ihre Skulptur hineingelegt hat. Gleichzeitig entsteht aus der Verwendung von struppigem, trockenem Material (Haar) für die Darstellung weicher, organischer Gebilde (Eingeweide) eine Steigerung des Abjekten. Das heißt, wir sind abgestoßen und angezogen zugleich, nicht zuletzt durch die psychische Wirkung, die das Objekt beim Betrachten auslös. Unter dem „inneren Schweinehund“ verstehen wir landläufig das, was unsere Gelüste und Bequemlichkeiten antreibt. Dieker jedoch wendet diesen Ausdruck persönlichen Schwachwerdens in ein Bild, das uns unsere eigene Körperlichkeit und damit unsere Hinfälligkeit erschreckend und unverholen bewusst macht. Die freigelegten inneren Organe deuten auf den Tod, ihre Sichtbarkeit ist erst im Augenblick des Todes gegeben.

Im Ausstellungstitel selbst steckt bereits ein wichtiger Hinweis auf diesen Zusammenhang. Mit „The Big Striptease“ zitiert Dieker eine Stelle aus Lady Lazarus, einem Gedicht der amerikanischen Lyrikerin Sylvia Plath. Darin beschreibt sie den Körper des lyrischen Ich im Augenblick seines selbstgewählten Todes. Doch der Selbstmord gelingt nicht. Ihre Rettung wird zur öffentlichen Darbietung, ihr Suizid zu einer Inszenierung – zur Kunst. Lady Lazarus, die vom Tode Wiedererweckte, die Gerettete, spricht über ihren Körper wie über ein fremdes Objekt – „Ein wandelndes Wunder, sozusagen, (…) Mein rechter Fuß/Ein Briefbeschwerer,/Mein Gesicht, nichtssagend/Feines jüdisches Leinen.“ Ihr Körper ist von einer Stofflichkeit, die in feinen Schichten angelegt ist und sich freischälen lässt, wie Diekers Stoff-Skulpturen: „Schäl mich aus diesem Mundtuch/Ach Feind/[…] Wieviel Millionen Flusen./Erdnuß mampfende Massen/Drängen herein, wollen zusehen,/Wie sie mich auspacken, nacktmachen./Zum großen Striptease.“ Was darunter zum Vorschein kommt, ist ein Ich, das sich ständig verändert und nicht zu fassen ist. Diese Vielschichtigkeit und Wandelbarkeit – die Einsicht, dass es unmöglich ist den Körper als das Eine, das Ganze zu erfahren ist im Kern das, was Birgit Diekers Kunst ausmacht.

[1] Birgit Dieker im Gespräch mit der Kuratorin am 26. Juni 2012.
[2] Zit. n.: Moritz Woelk, „Birgit Dieker“, in: Selected Artits – Stipendiatinnen und Stipendiaten des Arbeitsstipendiums für Bildende Kunst des Berliner Senats 2008, Berlin 2009.
[3] „Die Berber zog Skandale förmlich an, sie nahm Morphin und Kokain, trank pro Tag eine Flasche Cognac und prügelte sich mit jedem, der ihr quer kam. (…) Ihre oft nackt dargebotenen Tänze mit Titeln wie „Kokain“ oder „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ führten immer wieder zu tumultartigen Szenen während der Auftritte. Bald war sie bekannt und ebenso skandalumwittert und berüchtigt.“ Zit. n.: Ricarda D. Herbrand, Göttin und Idol. Anita Berber und Marlene Dietrich, 2003
[4] Birgit Dieker im Gespräch mit der Autorin am 26. Juni 2012.
[5] „Sterben ist eine Kunst, wie alles andere auch. / Ich kann es besonders gut.“ Vgl. Plath, 2008, S. 43.
[6] Vgl. Plath, 2008 (wie Anm. 1), S. 41.

Kuratorin: Dr. Andrea Jahn